Sunday 5 August 2007

Der klavierbauer und die Guillotine

Der Klavierbauer und die Guillotine

Das stürmisch grosse Spektakel der französischen Revolution
faszinierte das Auge noch jedes Betrachters.
Doch ein Detail am Rande des Geschehens, nahezu unbeachtet,
wirft Licht auf das Dunkle in Leben, Geschichte und Wahrheit:
Die erste Guillotine baute ein Klavierbauer.
Finger, die über Tasten glitten, lösten die schlagende, schneidende Klinge.
Die Idee vom tödlichen Schnitt ersetzte im Nu den Gedanken des Liebkosens
und der Gott der Musik wurde zum mörderischen Abgott.
Als Sinnbild offenbart es hunderte unglaubliche Phänomene.
Zwischen den Zeilen der unzähligen Sufi-Liebeslieder
half es mir erkennen, dass der Gott der Liebe die erste Hölle schuf.
Meine Augen, entzückt von des Predigers Wort über Mitleid und Erbarmen
auf Erden,
öffnete es und voll Betroffenheit sah ich, wie jener selbst die erste Grausamkeit
beging.
In den dicken Büchern über die Wahrheit,
in deren dunkle Vielschichtigkeit ich mich lange vertiefte, fand ich beim Schein dieses
Sinnbilds
in einem Einwurf zwischen zwei Sätzen
die erste Lüge.
Bei den Besonnenen, -Tag und Nacht priesen sie die Vernunft und dachten- ,
sah ich den ersten Blitz des Wahns in die Welt einschlagen.
Der den Zweifel als Methode lehrte zur Befreiung von altbacknen Theorien...,
in seines Herzens Tiefe erblickte ich die Weberwerkstatt inniger Glaubensbande.
Der über Freiheit reflektierte, -Verlust der Freiheit war seine stete Furcht-,
bei ihm reckte die Tyrannei den Hals im ersten Dämmerlicht.
Der es ernst meinte mit der Last der Sehnsucht nach des `Ewigen Lebens´ Ruh,
fand als erster den Augenblick.
Statt des Jubels über die eigene Ewigkeit
genoss er das Jetzt.
Den das Staunen beglückte,
er lehrte Fremdenhass,
erwog nicht, dass das Unbekannte Erstaunen erregt.
Der die Welt aus Liebe erschaffen wollte,
war der erste Egoist.
Je grösser sein Verzicht,
desto mehr sah er nur sich selbst.
Vor meinem geistigen Auge wird noch immer, plötzlich und ungewollt, das Piano zur
Guillotine,
die Liebkosung zum Todesschlag,
Freundlichkeit zu Gewalt,
Liebe zu Hass,
Gott zu Ahriman.
Ahriman bete ich an wie Gott.
Zum Teufel wird der Gott im revolutionären Wandel.
Voilà..., meine Anbetung setze ich fort unbeirrt,
in der Guillotine sehe ich noch immer das Piano.

Manuchehr Jamali, „KARIZ“, London 1994 (S. 56-57).